Einleitung

175 Jahre im Rahmen dieses Berichts umfassend beleuchten zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es wird deshalb nicht versucht, einen chronologischen Überblick über die lange Geschichte der FEG Thun zu geben. Der Zeitraum ist viel zu lang und es hat sich zu viel ereignet.

Der Bericht beschränkt sich deshalb auf vier einzelne Themen.

  1.    Das Umfeld vor der Gründung der Gemeinde
  2.    Carl von Rodt, der Gründer der FEG Thun
  3.    Die Gemeindelokalitäten in der Stadt Thun
  4.    Das Wirken der Gemeinde in der Region

1. Das Umfeld vor der Gründung der Gemeinde

Die Entstehung der FEG Thun ist nicht zuletzt eine Folge von Umwälzungen, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf politischem, gesellschaftlichem und geistlichem Gebiet ereignet haben. Dies sind zwar Ereignisse, die sich noch vor der Gemeindegründung ereignet haben. Trotzdem ist es eindrücklich und wertvoll zu wissen, in welchem Umfeld die Gemeinde entstanden ist.

Nachdem das Reich Napoleons zusammengebrochen war, entstanden in Folge des Wiener Kongresses ab 1814 langsam wieder regionale politische Machtstrukturen.

Dies passierte auch in Bern – dort wurde eine neue Patrizierregierung eingesetzt. Die Patrizier herrschten wieder in der gleichen Art und Weise über ihre Untertanen, wie sie das schon in der Zeit vor Napoleon taten: nämlich sehr streng und diktatorisch. Sie merkten nicht, oder wollten nicht merken, dass sich die Zeiten geändert haben. Es kam zu grossen Spannungen, weil das Volk immer deutlicher mehr Mitsprache und Unabhängigkeit forderte, die Regierung sich aber mit ihrer ganzen autoritären Macht dagegen wehrte.

Die Regierung war damals nicht nur für das politische Leben zuständig, sondern auch für die kirchlichen Belange. Eine Trennung zwischen Kirche und Staat, wie wir sie heute kennen, gab es damals nicht.

In der Kirche herrschten damals ganz einfache, klare Verhältnisse: Der Pfarrer war derjenige, der redete und auch derjenige, der beten durfte; die Leute hörten zu, schwiegen und gingen wieder. Ein eigentliches Gemeindeleben in Form von Gemeinschaft und Austausch miteinander haben, zusammen unterwegs sein, das gab es damals nicht. Dazu kam, dass die Verkündigung oft sehr oberflächlich war. Anstatt dass sie dazu angeleitet hätte, die biblische Botschaft in den Alltag zu übertragen und dort anzuwenden, vermittelten die Predigten einen kopflastigen Glauben, der bei der Theorie stehen blieb.

So ist es nicht verwunderlich, dass damals auch innerhalb der Kirche der Wunsch nach Veränderungen wach wurde. Und es gab dann tatsächlich auch neue Impulse, die von Genf ausgingen und die Gegend von Bern erreichten. Sie wurden dort von denjenigen, die sich Veränderungen wünschten, dankbar aufgenommen. Dies weitete sich aus und führte schliesslich zu einer geistlichen Erneuerung, die man im Nachhinein als „Berner Erweckungsbewegung“ bezeichnete.

Von dieser Bewegung wurde, unter vielen Anderen, auch derjenige Mann erfasst, welcher ein wenig später der Gründer der Freien evangelischen Gemeinden in der Schweiz werden sollte: Carl von Rodt.

 

2. Carl von Rodt

Carl von Rodt wurde 1805 geboren. Er stammte aus einer angesehenen Patrizierfamilie, welche seit Jahrhunderten zu den regierenden Familien Berns gehörte. Er hatte in Bern eine gute Stelle als Beamter in der Staatskanzlei, studierte Rechtswissenschaft und war Offizier im Militär. Er brachte alles mit was nötig war, um eine glänzende Karriere zu machen.

Eigentlich fühlte er sich in der Kirche wohl. Trotzdem war sein Geist und sein Denken offen und weit genug, um sich auch mit dem Gedankengut dieser neuen Bewegung auseinander zu setzen. Er scheute dabei auch den Kontakt mit Leuten nicht, welche hinter den neuen Ideen standen.

Dies setzte bei ihm einen Prozess in Gang; dabei kam auch er immer mehr zur Überzeugung, dass die Kirche tatsächlich eine Neubelebung nötig hatte. Sehr viel zu diesem Meinungsumschwung trug das Vorgehen der Regierung gegenüber denen bei, die dem geistlichen Aufbruch positiv gegenüber standen: Sie wurden zum Teil aus lapidaren Gründen verurteilt und sogar aus dem Kanton Bern ausgewiesen. Etwas hat ihn dabei besonders beeindruckt: Dass diejenigen, welche so in die Enge getrieben wurden, trotz der Ungerechtigkeit, die man ihnen zufügte, korrekt und anständig blieben. Dies stellt diesen Leuten ein überaus vorbildliches Zeugnis aus.

Schliesslich zog von Rodt die Konsequenzen und schloss sich offiziell auch der neuen Bewegung an. Dabei war ihm völlig bewusst, was das für ihn nach sich ziehen würde: Als Staatsbeamter verstiess er durch diesen Schritt gegen das Gesetz, und prompt wurden gegen ihn Massnahmen ergriffen.

Er wurde in einem ersten Schritt unter Aufsicht gestellt. Weil er trotzdem seine Einstellung nicht aufgab, wurde er in einem zweiten Schritt verhaftet und ins Gefängnis für Staatsverbrecher eingewiesen. In einem dritten Schritt schliesslich fasste der Geheime Rat den Beschluss, Carl von Rodt von allen seinen Ämtern ab zu setzen und auf unbestimmte Zeit aus dem Kanton Bern aus zu weisen.

Man kommt nicht darum herum zu sagen, dass den Gläubigen in dieser Zeit viel Unrecht getan wurde und sie eine ganz schwere Zeit erlebt haben. In diese schwierige Zeit fällt die Gründung der Freien Evangelischen Gemeinde Bern im Jahre 1829.

Ein Jahr später kam es dann in Bern zu der politischen Umwälzung, die sich schon lange abzeichnete: Die Regierung musste zurücktreten. Und wie wenn die Herren ein schlechtes Gewissen gehabt hätten, hoben sie noch am letzen Tag ihrer Regierungstätigkeit die Verbannung gegen Carl von Rodt und alle anderen Ausgewiesenen auf.

Trotzdem kehrte von Rodt nicht sofort nach Bern zurück. Nach seiner Ausweisung zog er nämlich in die Westschweiz und begann dort ein Predigerstudium. Erst drei Jahre später kehrte er zurück und übernahm dann die Leitung der FEG Bern.

Unter seiner Führung begann diese Gemeinde, über die Stadtgrenzen hinaus zu wirken. Es gab Versammlungen auf dem Land und daraus entstanden zum Teil neue Gemeinden. Und das passierte eben auch in Thun:

Carl von Rodt gründete im Jahr 1836 die Freie Evangelische Gemeinde Thun und setzte mit Wilhelm Wild einen ersten Prediger ein.

Das Jahr der Gemeindegründung lässt sich verknüpfen mit einem bedeutenden Ereignis, das sich an einem ganz anderen Ort abspielte: Im gleichen Jahr, 1836, wurde in Paris der Arc de Triomphe fertig gestellt und eingeweiht.